„Heute Morgen erwachte ich neben einer Leiche“
Warum es immer auf den Kontext ankommt
Eigentlich war es ein ganz normaler Abend, nichts Aufregendes. Wir sahen einen Film, dann gingen wir ins Bett, lasen beide noch ein bisschen und machten dann gegen 23:00 Uhr das Licht aus. Ich wurde allerdings mitten in der Nacht von einem schrecklichen Geräusch aus dem Schlaf gerissen: es summte direkt neben meinem Ohr. Ich wartete. Es kam näher. Ich wurde wütend. Dann fühlte ich etwas auf meiner Stirn und gleichzeitig verstummte das Summen. Ich schlug zu. Da kein erneutes Summen erklang war ich mir meines Erfolgs sicher. Friedlich, trotz schmerzender Stirn, schlief ich wieder ein. Am nächsten Morgen bestätigte sich mein Verdacht. Neben mir auf dem Kopfkissen lag die Leiche der Mücke deren Opfer ihr zum Verhängnis geworden war.
„Heute Morgen erwachte ich neben einer Leiche“ klingt in dem Zusammenhang gar nicht mehr so schlimm oder? Es kommt eben immer auf den Kontext an.
Der Kontext ist das, wovon wir bei unseren Mitmenschen am wenigsten mitbekommen. Bei jeder Begegnung ist unser Gegenüber voller Kontext, den wir nicht, oder nur in Teilen kennen. Dieser bestimmt aber den Verlauf sämtlicher Begegnung.
Wenn meine beste Freundin mich besucht und ich mich auf einen gemeinsamen Spieleabend freue, wird er anders verlaufen als erwartet, wenn sie auf dem Weg zu mir in Stau gekommen ist, ihr die Vorfahrt genommen wurde, sie nach einem stressigen Tag Hunger hat und die ersten drei Runden dann auch noch ständig verliert.
Wenn ich von meinem Kind verlange, dass es sein Zimmer aufräumt, es aber gerade erst aus dem Kindergarten kommt und dort heute großer Aufräum-Tag war und es schon viel mehr aufräumen musste als ihm lieb war, wird es vermutlich extremer reagieren als üblich.
Ein Mensch, der traumatisiert ist, reagiert vielleicht in einer Situation, die für uns absolut harmlos wirkt ganz extrem und für uns nicht nachvollziehbar, weil wir nicht wissen können, dass er von etwas getriggert wird. Das können ganz banale Dinge sein, die ihn aber an die traumatische Situation erinnern.
Was wir von unserem Gegenüber sehen, ist immer nur ein Miniausschnitt, eine absolute Momentaufnahme, ein Wort aus einem ganzen Buch. Wir verstehen nicht immer die Reaktionen unserer Mitmenschen und können sie vielleicht manchmal auch nicht nachvollziehen. Aber das müssen wir auch nicht. Respektieren und akzeptieren reicht. Denn jede und jeder handelt immer aus ihrem/seinem Kontext heraus. Lasst uns achtsam miteinander umgehen.